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Rahel Renate Mann
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Du hattest mich
verloren gemacht -
ich habe mich
wiedergefunden
ohne dich -
so hast du mich
dir verloren gemacht.





Björn Benken

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Die Schuldfrage


Drei Sätze bzw. Satzteile, sieben Zeilen; zusammen achtzehn Wörter. Und doch eine ganze Geschichte. Von einem Ich und einem Du, die früher einmal gemeinsame Wege gegangen sind. Nun haben sich die Wege getrennt; man hat sich nichts mehr zu sagen. Hat man wirklich nicht?

Ist man sich wirklich gleichgültig geworden? Dann wäre es nicht schwer, jetzt "vergiß es!" zu sagen, und alles wäre vergessen. In Wirklichkeit aber ist nichts vergessen. Noch immer besteht der dringende Bedarf an Rechtfertigung, und wenn schon nicht im direkten Dialog mit dem anderen, dann wenigstens für sich selbst; um das Gewissen, die Zweifel zu beruhigen und die Gefühle wieder ins Reine zu bringen.

Die akrobatischen Verbal-Akte, mit denen das Erzähler-Ich diese Aufgabe meistert, erzeugen Bewunderung. Die atemberaubende Ambivalenz der gewählten Ausdrucksform wird bereits im ersten Satz deutlich. Das Ich - so erfährt man - wurde vom Du verloren gemacht. Die ungewöhnliche Passivform dokumentiert die ganze Hilflosigkeit der Person, die sich stets als die schwächere Hälfte der Beziehung empfunden haben muß. Doch was das Erzähler-Ich als eine eklatante Verletzung der eigenen Persönlichkeit bewertet, muß beim Leser nicht unbedingt den gleichen Eindruck hinterlassen. Ist es genau betrachtet nicht sogar befremdlich (geradezu verantwortungslos), einem anderen Menschen die Verantwortung für sein Lebensglück zuzuschieben? Zumindest kann der Leser ohne genauere Kenntnisse der näheren Umstände und der Interpretation der Gegenpartei schwerlich als Richter in dieser Sache taugen.

Relativ eindeutig hingegen der zweite Satz. Da hat sich jemand wiedergefunden. Wieder zu sich selbst gefunden. Hat sich auf sich selbst und seine eigenen Wünsche und Fähigkeiten besonnen, und die anfangs sicher beängstigende Aussicht, daß der Selbstfindungsprozeß ganz allein abgeschlossen werden muß, hat nach und nach ihren Schrecken verloren. Das Ich war gar nicht so schwach, wie es selbst (und vielleicht auch das Du) immer dachte. Es ist aktiv geworden, hat die Trennung vollzogen oder zumindest die Bedingungen dafür geschaffen. Aber durch eben diese Aktivität ist es plötzlich angreifbar geworden; denn wer handelt, trägt Verantwortung. Das Ich, so scheint es, würde sich nur allzu gern reinwaschen von dem (unausgesprochenen) Vorwurf, am Bruch der Beziehung mitschuldig zu sein. Daher die gedrechselte Argumentation, mit der das Ich beweisen will, wer hier in Wirklichkeit die aktive Rolle gespielt hat. "Nicht ich war es, die weggegangen ist - du warst es, der mich weggeschubst hat!". Ist das die Wahrheit? Wo sonst liegt die Wahrheit? Wer wollte die Beziehung noch, wer tat genug für sie? Wer war zu schnell in seiner persönlichen Entwicklung, wer zu langsam? Wahrscheinlich ist es wie so oft im Leben: zwei Menschen, zwei Geschichten. Wahrlich, man möchte kein Richter sein in dieser Sache.

Nun zum dritten Satz, der zunächst aussieht wie das bloße Echo des ersten. Und dennoch, durch den Einschub des kleinen Wörtchens "dir" verschiebt sich der Akzent. Denn der, der da verloren gemacht haben soll, verliert nun selbst. "Du hast mich verloren" hätte ebensogut gesagt werden können, sollte aber wohl nicht gesagt werden. Denn um das Verlieren nicht als unabsichtliche, passiv erduldete Handlung darzustellen, sondern als bewußtes oder zumindest fahrlässiges Verhalten präsentieren zu können, sind stärkere Worte vonnöten: "Du hast mich dir verloren gemacht"! Das Ich hat die Schuldfrage in seinem Sinne geklärt.

Jahrelang habe ich dieses Gedicht als lakonisches Resümée einer modernen Paarbeziehung gelesen; als spannende Momentaufnahme jenes Zeitpunktes, wo alle Fäden zerschnitten, die Wunden jedoch noch frisch sind. Es ist aber keineswegs gesagt, daß dies auch von der Autorin so gemeint war. Ihr autobiographischer Hintergrund sei kurz erwähnt: 1937 in Berlin geboren, überlebte sie die Nazizeit als Jüdin unter abenteuerlichen Umständen. Als Vierjährige mußte sie mit ansehen, wie ihre Mutter ins KZ Sachsenhausen transportiert wurde. Sie selbst wurde in befreundeten Familien herumgereicht und zum Schluß - bis zur Befreiung durch die Russen - viele Monate in einem Kellerverschlag versteckt. Ihre Mutter kehrte aus Sachsenhausen zurück, war aber körperlich und in ihrem Gemütszustand zu gebrochen, um ihrer Tochter den nötigen Halt geben zu können. Während die Mutter über das Erlebte nicht sprechen wollte, beschäftigte sich Rahel R. Mann intensiv mit den Verbrechen der Nazis, studierte Psychologie und Medizin und widmete sich der Religionsgeschichte.

Durchaus möglich also auch, daß dieses kleine Gedicht am Ende eines lange schwelenden Mutter-Tochter-Konflikts entstanden ist. Oder nach dem schmerzhaften Auseinanderbrechen einer einst sehr engen Freundschaft. Doch in welchem äußeren Zusammenhang man auch immer das Gedicht ansiedeln mag, es demonstriert für mich in treffsicherer Weise einen typischen Grundzug menschlichen Verhaltens: den Wunsch nach Selbsterklärung, nach Rechtfertigung, nach Freisprechung von den Folgen des eigenen Handelns. Mea non culpa!



Das Gedicht wurde dem Band "erdundhimmelwärts" entnommen, der 1992 in der "edition kavanah" Eberbach/Heidelberg erschienen ist. Es wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin zitiert.

Die Autorin Rahel Renate Mann wurde 1937 in Berlin geboren, hat später in Braunschweig als Medizinerin, Psychologin und Pädagogin gewirkt und die von ihr gegründete "Lehrstätte für geistige Heilweisen und praktische Lebensführung" geleitet, bevor sie am 6.1.1997 in ihre Wahlheimat Israel übersiedelte.

Der Rezensent Björn Benken lebt in Braunschweig, hat als Diplom-Ökonom zum Thema "Bekämpfung von Arbeitslosigkeit" promoviert und beschäftigt sich derzeit mit dem Aufbau diverser kleinerer Internetprojekte (wie zum Beispiel diesem hier :-) ).



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