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Die Berufung Da aber als in sein Versteck der Hohe, sofort Erkennbare: der Engel trat, aufrecht, der lautere und lichterlohe: da tat er allen Anspruch ab und bat bleiben zu dürfen der von seinen Reisen innen verwirrte Kaufmann, der er war; er hatte nie gelesen - und nun gar ein solches Wort, zu viel für einen Weisen. Der Engel aber, herrisch, wies und wies ihm, was geschrieben stand auf seinem Blatte, und gab nicht nach und wollte wieder: Lies. Da las er: so, daß sich der Engel bog. Und war schon einer, der gelesen hatte und konnte und gehorchte und vollzog.
Die Überwältigung durch Gott
So ist es überraschend, bei ihm auf ein Gedicht zu treffen, welches einen dogmatischen Inhalt einer der grossen Religionen transportiert: die im Koran befindliche Szene der ersten Herabsendung von Allahs Wort durch den Engel Gabriel an Mohammed (Sure 96; Al-Alak). Rilke wählt die Sonettform, weil sie besonders gut gedankliche Inhalte in Verse bringt. In den beiden Quartetten wird die Lage geschildert: Mohammed wird in seiner Meditation durch einen Engel unterbrochen, der ihn in Angst und Not versetzt. Der Einbruch der übersinnlichen Welt löst Abwehr und Panik in ihm aus. Als Schriftunkundiger kann er gar nicht lesen, was ihm Gabriel zu lesen vorschreibt. Das erste Terzett lässt den Konflikt zwischen Mensch und Engel kulminieren. Gabriel besteht auf seiner Weisung: Lies! Man darf dieses Verb mit dem scharfen, durchdringenden Zischlaut am Ende durchaus eindringlich und lang anhaltend aussprechen. Es klingt wie ein Windhauch, der Hauch des göttlichen Geistes, der Mohammed begegnet. Es ist ein durchdringender, unabweisbarer Klang, der in die Ohren des Propheten und in seinen Sinn gedrungen ist. So kommt es im letzten Terzett zum Umschlag: Mohammed liest, zitiert, rezitiert (alle diese Nuancen enthält das entsprechende arabische Wort in diesem Zusammenhang). Er ist (wieder) ein Wissender geworden, weil er in seinem Innersten immer schon gewusst hat. Das Wesentliche, der Glaube und die Bindung an Allah ist dem Menschen innerlich, nach islamischem Denken, eigentlich gegeben. Es muss dies nur angestossen und wieder geweckt werden. Die Schönheit der Lesung, die Mohammed jetzt vollzieht, führt beim Engel - in den Augen Rilkes ein körperloses Geistwesen- zu einer Geste hoher körperlicher Behaglichkeit: er biegt sich, als er den Propheten sprechen hört, so wie wenn sich jemand behaglich streckt und entspannt. Rilke hat in diesem Sonett, welches, wenn man es intensiv, also richtig liest, an die Grenze dieser Gedichtgattung geht, den Kern der Botschaft jeder Offenbarungsreligion gezeigt. Sie braucht Individuen, die sich von der Nähe Gottes überwältigen lassen. In der Schönheit des Wortes schwingt auch der Schrecken des Erlebnisses mit. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, wie es an anderer Stelle bei ihm heißt (Duineser Elegien). Ein Anfang, den wir gerade noch ertragen. Ein Anfang, für den vor allem Propheten und Dichter gemacht zu sein scheinen und, vermittelt durch die Kunst, vielleicht auch wir anderen. Das besprochene Gedicht findet sich in Rainer M. Rilke, Der neuen Gedichte anderer Teil, Leipzig 1918, S. 115. In späteren Ausgaben wird der Titel des Gedichts - abweichend zur Erstausgabe - oft mit "Mohammeds Berufung" angegeben. Der Verfasser lebte von 1875-1926; er schrieb hauptsächlich Lyrik. Das Gedicht entstand während eines Paris-Aufenthalts, bei dem Rilke islamische Literatur und Religion studierte. Der Rezensent, geb. 1957, studierte Germanistik mit Schwerpunkt Neuere deutsche Literatur sowie Philosophie. Er lebt als Hausmann in Celle, Niedersachsen.
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