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Hans-Curt Flemming
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es riecht nach aufbruch
dabei ist erst februar
ein lachen streift durch meinen bauch
und glitzert durch die poren
ich atme tief und fühl
das prickeln auf der haut
und manchmal hab ich angst
vor so viel unverdientem glück
es riecht nach aufbruch
und mir wachsen kleine flügel
mein rücken ist nicht länger krumm
ich stehe schon
auf meinen eignen füßen
ein bißchen länger
sonne noch und wärme
und ich flieg
davon



Hinweis: Dieses Gedicht wird hier im Rahmen eines selbständigen Sprachwerks zitiert (§ 51 UrhG).  Weitere Infos




Gudrun Egner

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Ahnungen


Zugegeben – etwas stimmt hier nicht ganz für mich, denn das Gedicht passt nicht in diesen Monat, den Oktober nämlich, während ich dies schreibe. Aber das betrifft Sie als Leser ja gar nicht, und meiner Imagination tut es keinen Abbruch.

Es geht um Aufbruch, und diese Aufbruchstimmung ist für mich derart lustvoll, dass ich mich freudig in jenen Februartag des Dichters begebe, fast so, als wäre ich der Dichter selber. Ja, tatsächlich, als ich zum ersten Mal den Text las, konnte ich kaum glauben, dass er nicht meine eigene Schöpfung ist, so nah fühlte ich mich ihm (H.-C. Flemming möge mir verzeihen). Nicht misszuverstehen, was die Exzellenz seines Gedichtes ausmacht, sondern das Empfinden, das dem Ganzen zugrunde liegt. Es zeigen Notizbücher, Tagebücher vergangener Jahre immer wieder meine Einträge im Februar mit eben diesem Thema. Mal poetische, wie "Und Februar erschnuppert schon den Mai, oder wenigstens den April oder wenigstens den März ..." oder profaner "Noch zwei solcher Tage, und ich brauche keinen Mantel mehr ...". Ob poetisch oder profan, immer empfand und empfinde ich den Monat Februar mit seinen Ahnungen, d.h. den Ahnungen, die er in mir auslöste und auslöst, als magisch. Ich erinnere aber auch, dass meine Mitmenschen oft wenig Verständnis für mein Vorfühlen aufbrachten und statt dessen meinten, mich auf den Boden der noch winterlichen Tatsachen verweisen zu müssen. "Wunschdenken" bekam ich zu hören.

Wunschdenken?
Ja, ist es nicht so, dass Wünschen und Hoffen eng miteinander verbunden sind? Und wenn der Winter wieder einmal vergangen ist – auch wenn Winter in unseren Breiten keine großen Härten mehr bedeuten - , so ist da doch eine kreatürliche Freude, ein Hoffen auf neues Leben, auf Wärme, auf die neuen Farben der Natur, auf den Frühling eben. In der Natur ist ja der Frühling selber der Aufbruch. Doch – Stopp – vom Frühling ist hier gar nicht die Rede; die Intensität schon der ersten Zeile strömt aus dem Wort "Aufbruch".

Aufbruch kann vieles bedeuten. In dem Wort ist auch "Bruch" enthalten. Immer geht es um einen Bruch mit dem, was war, es ist etwas Neues da, zu dem es aufzubrechen gilt. Es gibt die Brüche im Leben, wenn nicht alles glatt läuft. Manchmal muss man zwangsweise aufbrechen, weil man irgendwo nicht mehr bleiben kann. Man kann auch freudig aufbrechen mit einem erstrebenswerten Ziel vor Augen. Leonard Cohen dichtete und sang vom Bruch, vom Riss: "There's a crack in everything, that's how the light gets in".

In unserem Beispiel hier scheint der Aufbruch – das Riechen desselben - eine Art sinnliches Glück zu sein, ein Geschenk, das lachen macht bis in den Bauch hinein. Ein weiser Buddha, lacht der nicht auch so? Er lacht, und wenn Bedenken kommen, das Glück könne unverdient sein, lacht er sie weg - der Buddha wie der Dichter. Solche Geschenke, besonders wenn sie unverdient erscheinen, kommen Gnadengeschenken gleich, und hier "glitzert" sogar die Schönheit auf. Die Schönheit und Intensität der Vorfreude ist so zauberisch, dass sie durch menschliche Haut hindurch, von innen nach außen, nicht anders kann, als sich zu zeigen - sie glitzert.

Tief wird geatmet.
In vielen Kulturen ist die Vorstellung verbreitet, dass Atmen mit dem Hauch Gottes gleichzusetzen ist. Was atmet, atmet ohne unser Zutun.
Im Gedicht atmet es gleichsam in den Aufbruch hinein.

Die Wiederholung der ersten Zeile "Es riecht nach Aufbruch" hat Beschwörungscharakter; verstärkt die Vorahnung von etwas Kommendem.
Und das Wunderbare geschieht:
Dem intensiven Wunsch, der Sehnsucht – dem aufgenommenen Engelsgedanken? - wachsen kleine Flügel! Dieser Gedanke scheint es zu bewirken: indem der Mensch zu einem wahren Menschen wurde, mit geradem Rücken, statt dem krummen, falschen, mit einem humanen Gewissen und Selbstverantwortung, also der Fähigkeit, rechtschaffen auf eignen Füßen zu stehen, wird er erst zum Menschen des aufrechten Gangs! In der Folge der Meisterung ist dieser Mensch bereit zur nächsten Stufe – "und fliegt davon".

Könnte es nicht so sein?

Es braucht nur "Ein bisschen länger Sonne noch und Wärme...",so das Dichter-Ich,und für mich ist es jene güldne Sonne, die ich aus dem christlichen Gesangbuch meiner Kinder- und Erwachsenentage kenne, die "unseren Grenzen" ihr "herzerquickendes liebliches Licht" hinhält, ja, selbst die Grenzen aufhebt, fliegen zu können.

Zu meiner eigenen Überraschung bin ich nun in der Weite einer spirituellen Freude angekommen, während ich anfangs nur fröhlich - ein Kind - in das Gedicht wie in einen Frühlingsgarten voller Wunder sprang.
Ist da ein Unterschied?



Das besprochene Gedicht trägt keine Überschrift und ist auf den 16.02.1981 datiert. Es stammt aus dem im April 1982 erschienenen Band "ein zettel an meiner tür", der beim Autor (Hans-Curt Flemming, Seestr. 78, Stuttgart) bestellt werden kann.

Der Verfasser des Gedichts ist Hans-Curt Flemming (Jahrgang 1947, in Stuttgart lebend).

Die Rezensentin Gudrun Egner hat eine fremdsprachliche Ausbildung und lebt in Hamburg.



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