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Joseph von Eichendorff
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Zwielicht

Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken ziehn wie schwere Träume -
Was will dieses Graun bedeuten?

Hast ein Reh du lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger ziehn im Wald und blasen,
Stimmen hin und wider wandern.

Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug und Munde,
Sinnt er Krieg im tückschen Frieden.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren -
Hüte dich, bleib wach und munter!





Wolfgang Schmalzl

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Reise in die Dämmerung


Es ist eine herkömmliche Wendung, daß etwas etwas bedeuten wolle, daß es also von sich aus die Neigung hat, etwas zu bedeuten, und nicht nur bedeutet, was man hineinlegt.

Doch hier entspricht dieser Wendung durchaus kein herkömmlicher Gedanke. Hier handeln die »Dämmrung«, die »Bäume« und die »Wolken« und das »Graun« selbst, durch eine Intention, die es hat: zu bedeuten.

Das »Graun« entspricht der »Dämmrung« des 1.Verses, von beiden wird ausgesagt: »will«. Dazwischen vollzieht sich eine Bewegung wie die von Flügeln: die Bäume rühren sich, die Wolken ziehn. Daß die Dämmerung die Flügel spreiten will, ist ein Bild, daß die Bäume sich rühren, eine Vertauschung von Subjekt und Objekt, da Bäume bewegt werden und nicht sich selbst bewegen. Daß Wolken ziehn, ist eine nicht ungewöhnliche Wendung, aber sie tun es wie schwere Träume, unter Vergleichung also des Inneren und des Äußeren.

Durch diese Vertauschungen und Vergleichungen aber entsteht poetische Logik, und nach dieser wird gefragt, wenn nach der Bedeutung des Grauens gefragt wird. Der Begriff des Grauens ist hier zwielichtig: einerseits bezeichnet er die Dämmerung, andererseits das innere Grauen, den Schauder, den schweren Traum.

Zwielichtig ist auch der Übergang zur 2.Strophe: Einerseits läßt sie sich als Antwort auf die Frage der 1.Strophe betrachten, andererseits als Angabe einer allgemeinen Regel, in deren Beschreibung das Grauen dann wieder zum Vorschein tritt. Das Reh, das man vor anderen lieb hat, soll man nicht alleine grasen lassen. Unbestimmt ist, ob »vor anderen« sich auf das Objekt, das Reh, oder auf das Subjekt bezieht, und ob die anderen dann nicht etwas die Jäger sein könnten.

Unbestimmt ist auch, ob die folgenden Verse die Begründung dessen geben, daß man das Reh nicht alleine grasen lassen solle. So könnte man auch das Reh aus liebender Zuwendung nicht alleine grasen lassen, in der man dann erst der Jäger gewärtig wird. Doch der primäre Zusammenhang zwischen Reh und Jägern ist eindeutig, doch ist er nie so klar wie bei der Nennung des Wortes »Jäger«. Daß sie im Wald ziehn, ist schon etwas unbestimmter, weniger auf ein Ziel gerichtet, zumal da nicht gesagt wird, daß sie in den Wald ziehn, nicht dorthin, sondern dort, ohne daß dem Ziehen ein Ziel beigegeben würde. Noch mehr verliert die Bedrohung ihre Klarheit, wenn von den Jägern gesagt wird, daß sie blasen, und dann wird die Bedrohung ganz in ein Zwielicht von Innerem und Äußeren verlegt, indem von den Stimmen die Rede ist, die hin und her wandern. Dieser 4.Vers der 2.Strophe ist wie ein Transponat des vorangegangenen: die Stimmen entsprechen dem Blasen der Jäger, so als wäre dieses Blasen wie Sprache vernehmlich, aber auch als wären die Jäger nur Stimmen. Und die Stimmen bewegen sich und bleiben doch im Waldbereich, sie »ziehn im Wald«.

Die Bedrohung wächst - als die unbekannte - in dem Maße, in dem sie als die äußerliche, klare sich verliert. Die 3.Strophe beginnt ähnlich wie die 2., nur geht es nun nicht mehr um die Bewahrung eines Rehs, sondern um die Selbstbewahrung. Einerseits ist dies die Fortführung des Bedrohungsthemas, steht also neben der 2.Strophe, anderseits auch im logischen Sinne hinter der 2.Strophe, wie deren Konsequenz, der aus der kaum greifbaren, aber stets vorhandenen Bedrohung, und die Warnung kann auch an das Reh gerichtet sein.

Zugleich wird die Bedrohung zugespitzt: nicht mehr Jagd, sondern Krieg, somit die Transposition dessen, was da im Walde geschieht, in die Sphäre der Menschen. Der Friede ist tückisch, aber, wie in einem Wahnbild, von sich aus, es ist nicht die Rede davon, daß er es durch das Sinnen auf Krieg würde. Der einseitig ersonnene Krieg aber entspricht im ersten Moment der Jagd.

Die 4.Strophe handelt vom Zusammenhang der Zeiten als einem logisch bestimmten. Zwielicht ist in den drei ersten Strophen ein in sich bewegter Zustand, in der 4.Strophe erscheint es als die Verschiedenheit der Phasen des Lichts. Dunkelheit und Licht treten auseinander. Sie treten wie Sein und Nichtsein, als Prozeß, in Erscheinung. Diesen Prozeß bezeichnen Vers 1 und 2.

Das, was da in Nacht verloren bleibt, könnte zunächst etwas von dem scheinen, was müde untergehet; so daß ein Teil des Untergangenen sich am nächsten Tage neugeboren höbe, ein anderer aber in Nacht verloren bliebe. Genaugenommen sagt aber die Strophe, daß alles, was müde untergeht, sich morgen neugeboren hebt. Daraus ließe sich nun folgern, daß das in Nacht verloren Bleibende gar nicht untergegangen, sondern immer schon verloren gewesen sei.

Der letzte Vers enthält die Aufforderung, »wach und munter« zu bleiben. Dieses »wach und munter« steht einerseits im Gegensatz zu »müde«, so als wäre der Aufgeforderte ein Objekt gleich jenen, die untergehen, und als solle er sich vor dem Untergang behüten, sich selbst behüten, andererseits ist die Aufforderung auch so zu verstehen, daß er sich vor dem, was da untergeht und am nächsten Tage neugeboren sich hebt, hüten solle, und er steht er jenen Objekten gegenüber, ohne ihnen anzugehören. Im gleichen Sinne ist die Warnung als die vor dem aufzufassen, was in Nacht verlorenbleibt. Was in Nacht verlorenbleibt, kann aber nicht zu ihm gelangen, nur er zu diesem, indem er sich dem Zustand jener Müdigkeit überläßt.

Es ist kaum eine äußere Müdigkeit, sondern die der Gedankendämmerung, der schweren Träume, der hin und her ziehenden Stimmen, des tückischen Sinnens. »Hüte dich«, das ist dann auch wörtlich zu nehmen als Aufforderung, sich selbst zu hüten, nicht vor etwas Äußerem, sondern vor der Produktion des eigenen Inneren, das umso bedrohlicher ist, je mehr es als das Äußere erscheint, als das es ein tückischer Freund wird. Das Äußere aber ist auf das Innere angewiesen, so wie die Gegenstände auf das Licht, um zu erscheinen, und das Erscheinenlassende, das als Tageshelle und als Dunkelheit zu verschwinden scheint, tut sich als Zwielicht hervor, gestaltet die Dinge selbst.

So notiert dieses Gedicht eine Reise in die Dämmerung des eigenen Inneren. Das doppelte Licht aber ist das, das aus dem Inneren kommt, und das, das in das Innere trifft. Dort, wo sich Beides trifft, herrscht das Zwielicht.



Das Gedicht "Zwielicht" findet sich beispielsweise abgedruckt in: Karl Otto Conrady (Hg.), Das große deutsche Gedichtbuch, Artemis & Winkler, 2. Aufl. 1992, S. 257.

Der Verfasser Joseph von Eichendorff wurde 1788 auf Schloß Lubowitz bei Ratibor/Schlesien geboren und starb 1857 in Neiße.

Der Rezensent Wolfgang Schmalzl lebt in München.



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