~ ~ ~ ~ ~

HOME

Warum
Anthologie.de

Fragen &
Antworten

Übersicht über
alle bisherigen
Beiträge

Rubrik: Mein
Lieblingsgedicht

Kontakt



Johann Wolfgang von Goethe
<<    ~   >>


Selige Sehnsucht


Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet:
Das Lebend'ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du, Schmetterling verbrannt.

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.





Wilfried Andreas Faust

<<    ^   >>

Leben in Metamorphosen


Als ich mit Goethes Dichtungen in Berührung kam, fesselten die Balladen meine Aufmerksamkeit, denn sie erzählten etwas, und ihre Dramatik konnte ich nachempfinden. Erst später wagte ich mich an die Gedichte, die zu erschließen mir nur nach und nach gelang. Das obige Gedicht, mein erklärtes Lieblingswerk dieser Kategorie, nahm mich schon beim ersten Lesen gefangen, und das in einer Art, dass ich spürte, wie mein Verstand zurückwich und ein Erschauern mich ergriff. Da wusste ich: Hier liegt ein Schatz, den ich heben muss. Die Verszeilen verwirrten mich einerseits, und doch nahm ich fühlend wahr, dass ich mich dem Gesagten langsam nähern könnte.

Noch heute, nach Jahrzehnten, ergreift mich derselbe Schauer, wenn ich die Zeilen leise vor mich hin spreche. Ich hoffe, ich begehe kein Sakrileg, wenn ich hier eine Deutung wage, und den Zauber nicht zerstöre:

Im ersten Vers wendet sich der Dichter an eine ausgewählte Gruppe (die Weisen), da nur sie die Botschaft verstehen kann, dass die Sehnsucht nach Reinigung - die Flamme symbolisiert diese - wohl nicht allem Lebendigen innewohnt. Eine solche Reinigung zieht aber den Tod nach sich, aus dem das gereinigte Lebendige wieder aufersteht (erst der letzte Vers bestätigt dies.) Die Menge, also die Mehrheit der Menschen, missversteht diese Erkenntnis, weshalb davon abgeraten wird, zu versuchen, es ihr zu vermitteln, um sich den Hohn zu ersparen. Wer diesen Zeilen zustimmt, gehört zu der Gruppe der Weisen und begibt sich auf einen Außenposten der Gesellschaft. Es handelt sich also um ein Auserwähltsein, das notwendig ist, um diese Sehnsucht zu verstehen. Ein Wissen um die Einsamkeit des Erkennenden schwingt hier mit.

Der zweite Vers gibt die meisten Rätsel auf. Liebesnächten wird doch sonst Hitze zugeschrieben; wo kommt dann ihre Kühlung her? Die verformende Hitze der Leidenschaft wird demnach ausgeklammert, um den Geist der Zeugung nicht zu behindern, sondern eine stille Kerze genügt, um ein fremdes, das heißt neues Gefühl zuzulassen, das sich dem Verstand zu entziehen scheint.

Der dritte Vers beschreibt die Erlösung aus der Unwissenheit, die als Finsternis daherkommt, die aber doch nur einen Schatten werfen kann, denn eine höhere Form der Zeugung (Begattung), sprich Göttliche Schöpfung, harrt, nach der uns ein Verlangen zwingt. Hier ist die Verbindung zum Titel aufgezeigt: Selige Sehnsucht, die uns auf eine höhere Ebene zieht.

Der vierte Vers verspricht, dass es keine Bedeutung hat, von welcher Position aus auch immer du dich näherst; das Licht der Erkenntnis, das du suchst, das dich anzieht, wird schließlich als Feuer dich reinigen. Es kann aber auch unsere mögliche Herkunft aus dem Kosmos und unser Eintreffen auf dem Planeten Erde gemeint sein. Der Schmetterling, der hier verbrennt, ist die letzte Stufe seiner Metamorphose, an der sich eine neue, höhere anschließt.

Im fünften Vers schließt sich der Kreis: Wer den schöpferischen Vorgang der Verwandlung durch die Pforte des Todes nicht verinnerlicht, bleibt in der verzerrenden Unwissenheit, die die Erde verdunkelt.

Die Sehnsucht, die Goethe uns in diesem Gedicht beschreibt, hat kein Ziel außerhalb von uns, sondern meint unsere innere seelische Entwicklung, die auf uns wartet, weil sie uns möglich ist.



Das besprochene Gedicht ist z.B. veröffentlicht in: Werksammlung (2 Bände) des Knaur-Verlages, Neuauflage 1957 der Jubiläumsausgabe (Auswahl der Gedichte unter Mitwirkung von Georg von der Vring).

Der Verfasser des Gedichts ist Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832).

Der Rezensent Wilfried Andreas Faust ist Mitglied der Autorengemeinschaft IGdA und lebt in Bajamar/Teneriffa. Er empfindet eine besondere Verbindung zu den Werken Goethes, da nicht nur sein Familienname auf das große Drama des Dichterfürsten hinweist, sondern er auch am 28.8. seinen Geburtstag mit ihm feiert.



- - ->  weiter zum  nächsten Beitrag - - ->  zur  Startseite

~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
© 2010