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Günter Kunert
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Auf der Schwelle des Hauses


In den Dünen sitzen. Nichts sehen
Als Sonne. Nichts fühlen als
Wärme. Nichts hören
Als Brandung. Zwischen zwei
Herzschlägen glauben: Nun
Ist Frieden.



Hinweis: Dieses Gedicht wird hier im Rahmen eines selbständigen Sprachwerks zitiert (§ 51 UrhG).  Weitere Infos




Willi Volka

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Versöhnter Augenblick


29 Worte, in 7 Verse gesetzt, zählt man die Überschrift hinzu. Die Hausschwelle assoziiert Verweilen, einen Zustand, nicht ganz draußen, nicht mehr drinnen zu sein, egal ob die Tür offen oder angelehnt ist. Dann plötzlich ist der Blick auf die Dünen gerichtet, wobei die Person, ohne es anzusprechen, sich bewegt hat, gedanklich oder sogar real, mitten in den Dünen angekommen, sich niedersetzt. Sofort wird klar, das, was die Schwelle bildet, ist nicht das Zuhause, es ist eine vorübergehende Bleibe - nennen wir es Ferien oder Urlaub mit dem Glück eines Ferienhausbesitzers? Sitzen in den Dünen. Das Haus ist so oder so nur eine Augenblicksunterkunft, im Schutz von Dünen. Das Leben sein Haus? Dünen die Welt? Die Geestlandschaft vor Augen. Die Küste liegt nicht weit von der Wahlheimat Kaisborstel (Itzehoe) entfernt. Stammt das Gedicht aus der Zeit vor dem Wechsel aus der DDR in die BRD? Sind es Ostsee- oder Nordseedünen?

Dünen bestehen aus ungezählten wanderfreien Sandkörnern, entstanden im ungestümen Anrennen der Wellen gegen Felsen und dem ständigen Rollen der Abschürfungen in der Brandung, Sandkörner in den Gezeiten vom Wind erfasst, vom Wind umgelagert, ins Da- und Dortsein. Getriebenes, transportiertes Unterwegssein und plötzlich, unbewegt sitzen auf diesem unverbundenen Körnerhügeln, auf scheinbar fest Gefügtem. Wie leicht kann loser Sand zum Spiel von Naturgewalten wie Wind und Wasser werden. Das Leben, ein Haus mit Übergangsschwelle. Kunert durchlebte einen Systemwechsel zwischen der Welt der DDR und dem damaligen "Westen".

Nichts sehen - die Dynamik im Geschehen, die vielleicht gerade inne hält, ausgeblendet ist, weil gerade Flaute ist. Dann der übersetzende Zeilensprung ins Himmlische, zur Sonne, die offenbar von keiner Wolke getrübt im Tagesbogen über den Himmel streicht, im Augenblick scheinbar stille steht und doch immer weiter wandert und wieder ein "Nichts", im nichts Fühlen, außer Wärme. Wie gut sie tut gegen die "kalte Welt", vielleicht gegen eine Frösteln auslösende sanfte Brise vom wogenden Meer. Und dann, nach dem Sehen, dem Fühlen, die dritte Sinnlichkeit, das Hören der Brandung, selektive Wahrnehmung von Licht und Sonne, ihrer Wärme und vom Gebraus der Brandung, kondensiert zum Ausschluss von trüben verfolgenden Gedanken, einfach im wunderbaren Augenblicklichen aufgehen. Die gefährlich werden könnende Brandung, die Brise, der Wind im Abseits. Sie sind sehr eins, die Sonne, ihre Wärme, die Brandung, die Wahrnehmungen, die auf den Texter wirken, von denen er ergriffen ist und dabei seine Körperlichkeit wahrnimmt und weist doch wieder über sie hinaus, zur Skepsis, zum "Unglauben"?

Denn im vorletzten Vers taucht am Ende das kurze, dunkle "Nun", das zweite reine "U" im Gedicht, nach dem vorausgehenden "ung" in Brandung, auf. Bewegung in den Herzschlägen, im Auslaufen und Brechen der Wellen, und damit der einzige Vers mit nur zwei Worten, ein dreisilbig herausgestellter Kontrast zu den längeren Zeilen mit den beiden "i", in "ist" und "Frieden", die dem dunklem "bedrohenden U" folgen. Ist Frieden gar mit Fragezeichen in seiner Flüchtigkeit zu denken? Liegt hier Pessimismus vor?

Denn Augenblicke auch aus dem Nichts - wie alle sinnlichen Eindrücke - sind der Vergänglichkeit unterworfen, die Sonne wird untergehen, die Wärme kann sich im Wind verlieren, die Brandung zum stürmischen Wellentosen werden, die Herzschläge gehen weiter - nicht ewig. Auch der Frieden ist vergänglich, ein Frieden nur zwischen zwei Herzschlägen vor der nächsten Sturmflut, die Sonne und Wärme schlucken kann? Eine Lehre aus Gedichtzeilen?

Dünensein als Nacheinander und zugleich ein Ineinander. Ein Hauch von intuitiver Zeitlosigkeit. Die Kunst, auch den Augenblick genießen zu können, darin liegt Frieden, augenblickliche Zufriedenheit mit der dem Lebenden verbundenen Umwelt, Frieden mit sich, mit dem Leben! Den Augenblick als Zustand erleben, auf den Dünen, gebunden im Glück des Augenblicks, ohne die Weltkriege, ohne die Repressalien eines politischen Systems, ohne die atomare Aufrüstung, ohne Kriege wie Vietnam, Irak, Afghanistan oder Palästina, die tödliche Schatten werfen und zu schnell die sonnige Wärme ins "Nichts" stürzen, das "Nun" entzaubern können...

Aber warum dem Autor nicht zubilligen, dass er auf der Schwelle des Lebens im Augenblick Frieden gefunden hat. Seien wir beglückt mit ihm, rauben wir ihm nicht den Augenblick, schöpfen wir Kraft aus 29 Worten. Für einen Augenblick Versöhnung mit der Welt, mit der Vergänglichkeit, Stille und Zufriedenheit finden, Frieden nicht nur ein Wort, sondern als ein Zustand. Eine immer währende Aufgabe. Und dies mag für alle Plätze der Welt ein Wunsch sein.



Das besprochene Gedicht ist z.B. veröffentlicht in: Der magische Weg, Deutsche Naturlyrik des 20. Jahrhunderts, Hrsg. Ursula Heukenkamp, Reclam Leipzig, 2003, S.124.

Der Verfasser Günter Kunert ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Lyriker der Gegenwart. Geboren im März 1929 in Berlin, lebte er bis 1979 in der DDR; dann ermöglichte ihm ein Mehrjahresvisum die Umsiedelung nach Schleswig-Holstein.

Der Rezensent Willi Volka (Pseudonym), 1941 in Karlsruhe geboren, lebt in Hannover und ist selbst Verfasser von Gedichten und Prosatexten. Nach dem Studium der Geographie in Saarbrücken arbeitete er bis 2006 in einer landesplanerisch-raumwissenschaftlichen Einrichtung. Erster Gedichtband: "Biegung des Jahres - Seismographe", 1998 im BRÜN-Verlag erschienen. Erster Preis im Seniorenwettbewerb 2002 der Stadt Völklingen. Schatzmeister der Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren (IGdA). Homepage: www.willivolka.de.



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