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Der milde Herbst von anno 45 Ich Uralter kanns erzählen, wie der Herbst durch jenes Jahr Wie ein Strom rann und ein Spiegel hundert Abendröten war. An Obstbäumen lehnten Leitern, knackten unter Eil und Fleiß, Und die Kinder schmausten immer, und die Kranken lachten leis. Auf dem Boden rochs nach Äpfeln, in den Kellern feucht nach Wein, Und wer eine Sense ansah, dem fiel doch der Tod nicht ein. War ein Herbst so lang wie jeder; Sonne sinkt und Stunde schlägt; Doch an jedes Leben, schien uns, war ein Kleines zugelegt.
Herbst, zeitlos
Bald jedoch erfuhr ich, daß der Herbst des Jahres 1945 gar kein Goldener Herbst gewesen ist, weder meteorologisch gesehen noch im Gefühl der Menschen. Zu tief prägten die vom Krieg geschlagenen Wunden und die bittere wirtschaftliche Not den Alltag, als daß man zufrieden und gelassen das Herbstwetter hätte genießen können. Ich las vom strengen Winter 1945/46, der die gebeutelten Menschen noch viel härter traf als die vorangegangenen harten Kriegswinter. Und so langsam ahnte ich, daß mit diesem Gedicht (oder zumindest meiner Erklärung desselben) etwas nicht stimmen konnte. Die Auflösung des Rätsels erhielt ich mehr als zweieinhalb Jahrzehnte später, als ich hinausblickte in einen mal wieder sehr goldenen Herbst. Die wundervolle Herbst-Andacht von Christian Friedrich Hebbel kam mir in den Sinn ("Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! Die Luft ist still, als atmete man kaum..."); und dann fiel mir auch die Geschichte mit dem milden Herbst von anno 45 wieder ein. Aus einer Laune heraus gab ich den vage erinnerten Titel in eine Internet-Suchmaschine ein, um den genauen Wortlaut des Gedichts nachzulesen, und stieß dort auf die Literaturkritik eines gewissen Karl Kraus, der kein gutes Haar an seinen Kritikerkollegen sowie am modernen Literaturbetrieb im allgemeinen ließ, dann aber immerhin das Gedicht eines jungen Dichters aus Österreich ausdrücklich lobte. Bei dem Gedicht handelte es sich um "Der milde Herbst von anno 45" von Max Mell. Die Rezension, so las ich in der Fußzeile, war am 9. Januar 1907 in der Zeitschrift "Die Fackel" erschienen. Karl Kraus? Die Fackel? Und vor allem: Doch wie kann jemand, der erst 1882 zur Welt gekommen ist, den Herbst des Jahres 1845 so detailliert und liebevoll beschreiben? Nun, ein Dichter darf sich wohl solche dichterischen Freiheiten herausnehmen, und in diesem Fall verstand der Verfasser es offenbar gut, die Geschichte seinem Publikum glaubhaft zu verkaufen. Vielleicht hat er damals die verklärte Erzählung eines Alten gehört und sie in seinem Gedicht aufgegriffen, wo er sich - selbst höchstens 24 Jahre - als "Uralter" ausgab. Aber letztlich tut dies der Schönheit des Gedichts keinen Abbruch. Wir alle kennen sie doch, diese festlichen Herbststimmungen mit ihren Spiegeln aus hundert Abendröten, die uns jedes Jahr - mal ausdrucksvoller, mal huschiger - den Abschied vom Sommer versüßen wollen. Es ist eine schwerelose, eine wahrhaft zeitlose Stimmung. In dem Moment, wo ich dies schreibe, weht gerade wieder ein Altweibersommer ins Zimmer hinein, wie er lieblicher nicht sein könnte. Rot und gelb hängen die Äpfel an den Bäumen, goldbraun-orange leuchten die Blätter der Felsenbirne im milden Licht, und durch die Luft schwirren Bienen, Mücken, Schmetterlinge, Libellen. Und vielleicht werde ich dieses Gedicht im Herbst des Jahres 2045 wiederlesen, wenn wieder einmal Sonne sinkt und Stunde schlägt und die Luft nach reifen Äpfeln riecht. Oder es mir von einem jungen Uralten vorlesen lassen. Das besprochene Gedicht ist z.B. veröffentlicht in: Karl Otto Conrady (Hg.), Das große deutsche Gedichtbuch, Artemis & Winkler, 1. Aufl. 1977, S. 788. Der Verfasser Max Mell wurde 1882 in Marburg an der Drau (heute Maribor/Slowenien) geboren und lebte von 1886 bis zu seinem Tod 1971 in Wien, wo er als Dichter und Schriftsteller tätig war. Für weitere biographische Details siehe Wikipedia. Der Rezensent Björn Benken lebt in Braunschweig, hat als Diplom-Ökonom zum Thema "Bekämpfung von Arbeitslosigkeit" promoviert und betreibt mehrere Internetprojekte.
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© 2007 |