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Matthias Buth
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Regenfront

Der Regen speichert die unterirdischen Klopfzeichen des Himmels
Die Sprachen der Toten sie wollen zurück sie wollen sich äußern

Mit der Verzweiflung der letzten Stunden
Als alles aufgab und keiner mehr hörte
Wie lebendig sie immer noch waren nicht hinab wollten
Sie stellten sich nur schlafend und blieben wach

Jetzt spielen sie sich zurück auf Geländern und Fensterbänken
Und wollen noch einmal von vorn anfangen
Noch einmal sagen
Es war nicht so gemeint alles war anders
So wie sie immer die anderen waren
Nie sie selbst

Der Regen kennt jeden einzelnen schickt
Fingerkuppige Reden und speichert sie damit sie
Nicht verloren gehen
Diesmal nicht



Hinweis: Dieses Gedicht wird hier im Rahmen eines selbständigen Sprachwerks zitiert (§ 51 UrhG).  Weitere Infos




Gudrun Egner

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Tropfenvariationen


Man stelle sich das vor: Die Toten spielen sich zurück – auf Geländern und Fensterbänken; ihr Mittel ist der Regen.

Spielen? Matthias Buth sagt es so: Es sind unterirdische Klopfzeichen, die der Regen gespeichert hat, "Klopfzeichen des Himmels" nennt er sie. Fiktion und Realität an einer Nahtstelle?

Verstörend die angesprochene Realität! Wer möchte leugnen die Verzweiflung? Sehr wohl vorstellbar ist die Verzweiflung der letzten Stunden, wer wüsste das alles nicht aus heutiger Zeit. Da sind einmal die äußeren Umstände – Krankheit, Schmerzen, Einsamkeit, Abgesondertheit, Unfähigkeit, sich noch zu äußern. Gleichwohl die inneren, doch komplexer, nicht weniger schmerzhaft, quälend: "Sie wollten noch nicht sterben ..." Warum nicht? Warum fehlte die Bereitschaft, fragt man sich. Und dann – fast einer Utopie gleich "... stellten sich nur schlafend und blieben wach".

Wach, um ihr Gewissen, auch das schlechte, zu spüren, dass sie – irgendwie – etwas – alles? - falsch gemacht hatten. Wach, überwach jetzt, um zu erkennen, dass sie alles, was ehrlich gewesen wäre, niemals ausgesprochen hatten; sie hatten nur nachgeplappert, sie hatten nicht einmal jenes Eigene, das sie waren, auch nur kennengelernt, ihr Bewusstsein drang während ihrer Lebenszeit gar nicht zu ihnen durch, daher die verstörende Erkenntnis jetzt, dass sie "immer die anderen waren – nie sie selbst".

Sie muss schlimm sein, diese Lebensbilanz auf dem Sterbebett. Verstörend allemal, verstörend bis in die Fingerspitzen, die Fingerkuppen, die der individuelle, unverwechselbare Abdruck zur Identifizierung der Persönlichkeit, des Einzelnen sind – und die M. Buth zu einer Überleitung in "Fingerkuppige Reden des Regens" veranlassen.

Verstörend jenes "Zu spät", sich jetzt seiner Einmaligkeit bewusst zu werden, der eigenen Stimme, der eigenen Sprache, der Ehrlichkeit, die sozusagen das Negativ des äußeren Bildes ist, unveränderbar. Jetzt – auf einmal – in der Ausweglosigkeit des Todes, ja des Gestorbenseins sogar, wollen sie zurück, die Toten, wollen nicht im Inneren des Todes sein, sondern ins Außen dringen, um sich zu „äußern“, in Sprache.

Ein Trostcharakter verbirgt sich unter aller äußeren Verstörtheit. Eine Sehnsucht scheint auf. Trotz der nicht geleugneten Verzweiflung der letzten Stunden, trotz der völligen Resignation ("als alles aufgab"), trotz der Einsamkeit ("und keiner mehr hörte") lesen wir: "Wie lebendig sie immer noch waren ..."

Wer ein gläubiger Mensch ist, gleich welcher Religionsrichtung, wird die Botschaft wiedererkennen, jene: "Ich lebe und ihr sollt auch leben" - oder das verheißungsvolle Bild, das den Menschen gar zum Gleichnis Gottes erhebt.

Der Trostcharakter geht sehr weit, er nimmt der Verstörtheit ihre Schwere und spricht sogar von "Spiel" ("spielen sich zurück auf Geländern und Fensterbänken"), sogar ungeachtet des Totseins; die Toten, sprechen sie jetzt in neuen Zungen? Sie wollen noch einmal von vorne anfangen.

Am Beispiel der Evangelien – was ist die Bedingung für den Neuanfang? Es ist jenes "Kehre um, tue Buße, sündige nicht mehr". Im Gedicht formulieren die Toten selbst ihre Umkehr: "Es war nicht so gemeint, alles war anders". Wie kommen sie darauf? Haben sie das erkannt: So wie wir waren, waren wir nicht wir selbst, nicht wirklich Gottes Kinder, nicht so wie wir gedacht waren, sondern dem Versucher anheimgegeben, und ihm nachgegeben zu haben, das war der falsche Weg. Wir wollen noch einmal von vorne anfangen, es jetzt anders machen.

Der Dichter hat die Metapher Regen für das Eine, das Numinose – für Gott – gewählt. Hier ist in der Tat alles gespeichert – und die Klopfzeichen des Himmels ergießen sich Tropfen für Tropfen und sogar in "fingerkuppigen Reden" für jeden Einzelnen von uns: Wer Ohren hat, der höre, heißt es in der Bibel. Und im Gedicht: "Der Regen kennt jeden einzelnen".

Seine Botschaft: Du gehst nicht verloren, du kannst gar nicht verloren gehen.



Der Verfasser des Gedichts ist Matthias Buth.

Das besprochene Gedicht erschien in seinem Gedichtband "Paris regnet - Neue Gedichte" (edition offenes feld, 2016)

Die Rezensentin ist Gudrun Egner, Lyrikerin.



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